Alltagsanekdoten / everyday life

Sind es wirklich die anderen oder bin es vielleicht doch ich? 

Ich sitze hier friedlich auf einer Bank umgeben von Kühen, Wiesen, einem Weiher – im Schweizer Niemandsland – nicht so ganz, aber für Grossstädter wohl schon. Mit einem Laptop. Mitten in der Natur… Und dann spaziert da ein älteres Ehepaar vorbei, wobei der Mann mich eher abschätzig anschaut, meiner Meinung nach. Stopp. Stopptaste drücken und mal schauen, was da soeben in mir vorgeht. 

Wie hübsch will ich doch gerade mal wieder meine Selbstvorwürfe/mein schlechtes Gewissen auf andere projizieren, anstatt mir einzugestehen, dass ich da grad etwas mache, das ich eigentlich doof finde, es aber jetzt halt doch mache. Denn ja, ich finde es eigentlich schade, wie viel Zeit wir so mit Handy und Computer verplempern. Und wenn ich dann mal in der Natur bin, weg von allem, will ich diese doch geniessen und nicht wieder auf einen Bildschirm starren. Aber ich tue es…weil ich mich gleichzeitig hier auch viel besser konzentrieren kann, als umgeben von x anderen Geräten und Ablenkungen, bei stickiger Luft, Lärmimmissionen etc. 

Also spaziert dieses Ehepaar vorbei und ich denke, dass sie jetzt bestimmt denken, wie dumm das doch sei, dass da eine mit Laptop in der Natur sitzt, noch nicht einmal für die wenige Zeit ohne kann. Die heutige Jugend (nun gut, das wohl eher Wunschdenken, denn so jung bin ich auch nicht mehr) und so. Vielleicht denken sie es tatsächlich, aber das weiss ich nicht und spielt jetzt auch grad keine Rolle. Denn ob sie es denken oder nicht, ich nehme es gleich einmal vorweg und unterstelle ihnen das. Und könnte mich dann nerven über dieses Paar, das mich abschätzig behandelt und so, sich in Dinge einmischt, die es nichts angeht, ein Urteil fällt, das ihm nicht zusteht etc.

Aber Achtung, denn wer ist hier derjenige, der denkt, unterstellt, beurteilt? ICH. Alles mein Mist, meine Selbstvorwürfe, die ich natürlich viel lieber und einfach auf andere projiziere, auf die ich dann böse sein und an ihnen leiden kann, als mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Und so schnell geht’s mal wieder. Das Kopfkino, das meinen Mist anderen um die Ohren haut und sie dann für Dinge verantwortlich macht, die ich gedanklich produziert habe. Für die sie so überhaupt rein gar nichts können. 

Wenn man diesem Trick mal erlegen ist, ist es äusserst aufschlussreich, was da so alles auftaucht. Am besten in Eigenbeobachtung – etwas Selbstreflexion hat wohl noch keinem geschadet -, aber auch wenn man mal so ganz allgemein andere beobachtet oder auch, wenn man dazu noch die Nerven und genügend Objektivität besitzt, das Gegenüber, das einem – nun andersherum – gerade Dinge vorwirft, die mehr über dieses Gegenüber aussagen als über einen selbst. 

Das mir da zum Beispiel gerade vorwirft, dass ich es verletzt und traurig gemacht habe, weil ich Zeit alleine verbringen möchte. Fakt ist ja, ich möchte etwas Zeit alleine verbringen, viel Zeit alleine verbringen, weil ich ein ausgeprägtes Bedürfnis habe, alleine zu sein, in mich zugehen, Ruhe brauche. Das hat eigentlich so gar nichts mit der anderen Person zu tun. Diese denkt aber, dass es an ihr liegen muss, dass man sie nicht mag, respektiert, schätzt und nimmt etwas persönlich, das eigentlich vor allem mit meiner Persönlichkeit zu tun hat und so herzlich wenig mit ihrer. Sie denkt, wenn die olle andere da keine Zeit mit mir verbringen will, dann weil sie mich nicht schätzt, und das tut mir weh, macht mich traurig etc. Ihr Kopfkino, nicht meins (auch wenn ich diese Seite selbst ebenfalls gut kenne). Dennoch fühle ich mich dann wiederum schlecht, wenn mir dies vorgeworfen wird und so weiter und so fort. 

Um die konkreten Beispiele geht es jetzt auch gar nicht. Und schwierig wird’s auch, wenn einer dies durchschaut und Verantwortung für sein Kopfkino und seine darauf beruhenden Gefühle übernimmt, der andere aber friedlich vor sich hin projiziert (gut, sonderlich friedlich wohl eher nicht, frischfröhlich auch nicht, aber er macht’s halt – wutschnaubend vielleicht). Daran hab ich mich auch schon des Öfteren versucht vonwegen: „Ok, ich sehe ein, dass ich da einen wunden Punkt habe und entsprechend Dinge ausgelegt und interpretiert habe und übernehme die Verantwortung dafür, für meinen Unmut“. Und der andere dann: „Und dass ich traurig bin, daran bist du auch schuld“. Arschkarte. Aber Konflikte sollen wohl tendenziell eher nicht allzu glimpflich und einfach ablaufen. Und auch wenn mich das nervt, sind’s dann ja wieder meine Nerven. Weil ich mich dann unfair behandelt fühle, gerne recht haben möchte oder weiss der Geier was da mehr oder weniger Hochkomplexes gerade wieder in mir abgeht. 

Für etwas theoretischen Input möchte ich hier auch gerne Byron Katie und ihre Bücher erwähnen (http://thework.com/sites/thework/deutsch/). So appelliert sie eben an uns alle, Verantwortung für unser Leben, unsere Taten, Worte und Gedanken und vor allem auch für unsere Gefühle zu übernehmen, indem wir eine Situation, die uns zusetzt auf folgende vier Fragen hin überprüfen: 

Ist das wahr?

Kann ich absolut sicher sein, dass das wahr ist?

Wie reagiere ich auf diesen Gedanken?

Wer oder was wäre ich ohne diesen Gedanken?

Anschliessend wir der Gedanke umgedreht und nach Beispielen gesucht, die die jeweilige Umkehrung bestätigen. Wenn ich also zum Beispiel denke, dass das oben erwähnte Ehepaar mich negativ bewertet, dann wäre eine mögliche Umkehrung: Ich bewerte das Ehepaar negativ. Oder ich bewerte mich selbst negativ usw., was der Wahrheit dann tatsächlich bedeutend näher kommt als die ursprüngliche Annahme. 

Nein, ich stelle mir diese Fragen nicht bewusst jedes Mal, das ich mit mir, anderen oder dem Leben hadere, aber es ist inzwischen wohl auch zu einer Art Automatismus geworden, wenn er denn will. Ich habe eine Weile lange verschiedene Sätze, die ich so im Kopf hatte und die mir das Leben unglaublich schwer machten, darauf hingehend überprüft, und es war sehr aufschlussreich und auch schockierend, was dabei so aufgedeckt wurde. Die meisten Sätze habe ich leider trotzdem noch im Kopf – so leicht und schnell wollen die tiefeingefurchten Hardliner nicht weichen -, aber wenigstens weiss ich nun, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen müssen, sondern mein völlig subjektives Konstrukt sind, eine Zusammenfassung all meiner Ängste und Zweifel sozusagen. Und dieses Wissen gibt mir zumindest mal theoretisch die Freiheit, auch andere Auslegungsweisen und Ansichten gelten zu lassen und wenigstens das eine oder andere Mal dem Film in meinem Kopf eine neue Wendung zu verleihen.

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