Wir Schweizer mit unserem Kontrollwahn, unserem Perfektionismus, unserem Hang zur Überversicherung. Wann haben wir eigentlich zu leben verlernt? Woher diese unglaubliche Angst vorm Leben und dieser Wahn, diese Illusion, es mit Geld und Leistung kontrollieren zu können?
Natürlich, damit mich auch das gerade einmal mehr nervt, muss es einen Nerv bei mir treffen, das ist mir völlig bewusst, und das nervt mich dann ebenfalls. Dass mir dieses Land, seine Gesellschaft, meine Ursprungsfamilie vormachten, wenn ich mich nur gegen alles Mögliche mehrfach versichere, brav und fleißig leiste und alles neurotisch plane, dann kann nichts mehr schief gehen und alles ist in bester Ordnung – nur dass es das nicht ist und ich mich nun verarscht fühle. Ich mag so vieles sein – wie zum Beispiel beherrscht von Arbeit und Leistungsdruck, Terminen, den Meinungen anderer, etlichen Versicherungsbeträgen, für die ich mein Geld zum Fenster raus schiesse (und seien wir ehrlich, zu Versicherungen, die, wenn sie es irgendwie vermeiden können, eh nie zahlen werden) -, aber bestimmt nicht frei oder glücklich. Denn so ist das ja mit Neurosen, Perfektionismus und Co., sie führen nicht wirklich zu Gelassenheit und Zufriedenheit, im Gegenteil.
Meine Ursprungsfamilie ist da vielleicht auch besonders neurotisch, perfektionistisch und kontrollwütig, was sicherlich auch darauf beruht, dass meine Eltern beide noch den zweiten Weltkrieg und anderes miterlebt haben – meine Mutter sogar in Deutschland -, und dass sie aufgrund dessen vielleicht besonders auf Sicherheit bedacht sind – schlichtweg weil sie auch noch selbst erlebt haben, was es bedeutet, hungern zu müssen, arm zu sein – und davor habe ich auch allen Respekt. Neurosen, Perfektionismus und Kontrollwut sind auch nicht generell nur schlecht. Wie alles haben selbst sie ihre Qualitäten, so hab ich mir auch schon bei manch einem gewünscht, er oder sie wäre doch bitte etwas perfektionistischer und kontrollwütiger. Neurotischer vielleicht nicht unbedingt, aber selbst da gibt es Situationen, wo es von Vorteil sein kann.
Konkret geht es jetzt gerade jedenfalls darum, dass ich mindestens fünffach gegen Invalidität versichert bin – das muss man sich einmal vorstellen!!! – und den Sinn davon so gar nicht sehe. So oft kann ich ja gar nicht invalid werden. Und beschwöre ich es damit nicht fast schon herauf?? Denn jetzt müsste ich es ja fast, invalid werden, damit sich das Ganze auch lohnt und all das viele Geld nicht verloren ist. Dass wir damit doch gleich vom Schlimmsten ausgehen. So vonwegen wir stellen jetzt ein Kind auf die Welt und sichern es gegen alles ab, was ihm auch nur annähernd einmal passieren kann. Verständlich, dieser Wunsch von Eltern und anderen. Diese Hilflosigkeit im Angesicht all der Ungewissheit, die das Leben so mit sich bringt. Aber sinnvoll? Oder wird damit einmal mehr eine Industrie finanziert, die sich eine goldene Nase daran verdient, uns Angst zu machen – pfui!
Ich vertrage sie nämlich äusserst schlecht, Menschen und Industrien, die die Ängste anderer ausnutzen oder gar erst wecken. Und wie viele gibt es davon… Pharmaindustrie und Krankheitswesen, Schönheitsindustrie (oder eben auch Hässlichkeitsindustrie je nachdem, wie man Schönheit denn definieren möchte), besagte Versicherungen und noch viele mehr. Die alle vorgeben, uns doch nur Gutes zu wollen, schlussendlich aber alleine von Profitgier gesteuert werden und eigentlich auf unser Wohl sch… Klar, hier sollte differenziert und nicht gleich wieder alle in einen Topf geschmissen werden. Wird der Einfachheit halber nun aber doch mal so gemacht – mit kurzer Anmerkung, dass es selbstverständlich immer Ausnahmen zu jeder Regel gibt, ich baue darauf.
Es geht mir jetzt aber auch nicht darum, auf Versicherungen und andere zu schimpfen, sondern diese schweizerische Versicherungswut zu hinterfragen. So hatte ich mich auch auf Reisen da mit einer anderen Schweizerin öfters drüber unterhalten, wie viele aus anderen Ländern ohne jegliche Absicherung wie zum Beispiel eine Krankenversicherung unterwegs sind/leben, was wir uns nur schwer vorstellen konnten. Die Krankenversicherung kündigen, alle die Prämien sparen – hmm… Sollen wir oder sollen wir nicht besser doch nicht? Denn wenn dann doch etwas passiert, ein schwerer Unfall und wir nicht versichert sind, was dann?
Und so ganz unberechtigt ist diese Überlegung ja auch nicht. Versicherungen haben durchaus auch ihr Gutes – wenn sie denn Sinn machen und im Bedarfsfall auch bezahlt wird. Irgendwo muss das Geld natürlich herkommen, das sehe ich ja schon. Und der Lohn all der Angestellten, die einen in der Schweiz doch eher übertriebenen Papierkrieg bewältigen müssen, muss ja auch wer bezahlen. Auch da muss differenziert werden, muss es einfach. Zwischen einer äusserst sinnvollen Versicherung (wozu ich unsere Krankenversicherung nicht unbedingt zählen würde, da sie vor allem für schulmedizinischen Leistungen gilt, die meiner Meinung nach dann wieder allzu oft sinnlos oder gar schädlich sind und mehr der Profitgier ihrer Akteure dienen als dem Wohl der Patienten) und einer fünffachen Versicherung gegen Invalidität.
Auch für den frühzeitigen Todesfall war ich bis vor Kurzem dreifach versichert – erstens kann ich nur einmal sterben, zweitens interessiert es mich dann eh nicht mehr. Teilweise dann noch in Knebelverträgen, aus denen man schlecht rauskommt ohne enorme finanzielle Einbussen, wobei ich die gesamte Versicherung bereits als enorme finanzielle Einbusse bezeichnen möchte. Was wir Schweizer im Jahr so für Versicherungen ausgeben – es müssen horrende Summen sein. Und schlussendlich ist es ja dennoch wie Lotto spielen.
Wird man zum Beispiel invalid, zahlt die Invalidenversicherungen und darauf abgestützt dann auch die anderen privaten Versicherungen nur für sehr ausgewählte Krankheiten. Derjenige, der gerade die richtige erwischt hat, mag „profitieren“, alle anderen gehen trotz all den geleisteten Beiträgen leer aus – und hätten das Geld mal besser auf ein Sparkonto gepackt, so dass sie’s jetzt noch hätten. Erleidet einer einen Haftpflichtfall, ist auch da lange nicht alles gedeckt. Das sollte man sich dann schon gut aussuchen, was man sich so zu Schulden kommen lassen will – nur dass es bei einer bewussten Handlung dann ja wieder kaum ein Fall für die Haftpflichtversicherung ist.
Ich wage mal wieder dreist hier etwas zu behaupten, und zwar dass es bei unseren Versicherungen vor allem darum geht, sagen zu können, dass man sie ja hat. Für den Staat, dass er sich einreden kann, er sei ein Sozialstaat, wie (a)sozial es im Einzelfall dann auch immer aussehen möge, und für den Versicherten so zur Beruhigung, damit einem dieses böse, ungewisse Leben nichts anhaben kann – aber sowas von illusorisch.
Was ist denn mit Vertrauen? Ja, Vertrauen ist gut, Vorsorge ist besser. Will ich so auch nicht per se von der Hand weisen, und würden wir alle nur blind in den Tag hinein leben und keiner für irgendwas vorsorgen, wär’s ganz bestimmt äusserst suboptimal. Der Mittelweg halt wieder. Zwischen diesen zwei Extremen. Sowie sich bewusster mit den eigenen Ängsten auseinander setzen. Denn ja, wir alle können jederzeit invalid werden, was wohl kaum einer von uns möchte, und wir können auch alle jederzeit sterben. Dies macht Angst, und das ist auch nur sehr normal und sehr menschlich. Nur ändert es an diesen Tatsachen nichts, wenn ich mich hundertfach für so einen Fall versichere. Denn so ein Fall ist schlichtweg zu einem grossen Teil ausserhalb unserer Kontrolle…und auch das will akzeptiert werden.
Ich hab dann mal kurz gegoogelt und festgestellt, dass ich a) nicht fahrlässig von meiner Familie auf andere schliesse und b) auch nicht übertreibe, wenn ich den Schweizern einen Versicherungswahn anhänge. Man siehe u. a. http://www.nzz.ch/versicherungssuechtige-schweizer-1.14895997.