Als ich heute aufs Postauto wartete, wurde mal wieder ein Kälbchen beim Dorfmetzger abgeliefert. Dies hatte ich schon mehrfach miterlebt, wie die Kälbchen dann dort hinterm Gitter angekettet standen und verängstigt warteten – und jedes Mal brach es mir aufs Neue das Herz. Mir war jedoch gesagt worden, dass dies inzwischen nicht mehr so sei. Die Kälbchen würden zwar immer noch abgeliefert und geschlachtet, aber so, dass die Bevölkerung dies nicht mitkriegen muss (Scheuklappen auf), so hätten sich wohl mehrere Anwohner darüber beschwert (wenn Schlachthäuser Glaswände hätten…).
Ich hörte das Kälbchen schon im Transporter verängstigt muhen. Als das Muhen anhielt – und das Postauto Verspätung hatte –, beschloss ich, das Postauto Postauto sein zu lassen und ging zum Gitter, hinter dem die Kälbchen und Schafe jeweils angebunden auf ihre Hinrichtung warten dürfen. Dieses Mal stand das eine Kälbchen alleine zusammen mit vier Schafen, die aneinander gedrängt an der Wand standen. Das Kälbchen war angekettet, hatte blutunterlaufene, weit aufgerissene Augen, zerrte immer wieder am Strick und muhte herzzerreissend. Der Metzger lief mehrfach daran vorbei, beachtete es aber nicht weiter. Gerne wäre ich zu ihm, um es etwas zu streicheln und bei ihm zu sein. Es fühlte sich absolut schrecklich an, das Ganze beobachten zu müssen und so gar nichts tun zu können. Alles, was mir blieb, war ihm wenigstens gedanklich Liebe und Schutz zu schicken, was aber auch für mich in der Situation sehr schwierig war.
Irgendwann sprach mich der Metzger – mit blutbetupftem Gesicht – an, was ich wolle. Ich sagte ihm, dass das Kälbchen mir leid täte, worauf er meinte, das sei völlig normal so. Er verstand offensichtlich nicht, was ich meinte. Als ich dann erwiderte: „Also wenn das normal ist…“, lief er dann auch davon und liess mich stehen – und das Kälbchen weiterhin am Strick ziehend und verängstigt muhend.
Auch jetzt, Stunden danach, fühle ich mich noch schrecklich. Dass ich das Kälbchen im Stich gelassen habe, indem ich irgendwann dann auch ging, weil ich es schlichtweg nicht länger ertrug. Vielleicht hätte ich den Metzger fragen sollen, ob ich dem Kälbchen wenigstens etwas Gesellschaft hätte leisten dürfen? Was er wohl nicht verstanden hätte, aber vielleicht dennoch erlaubt? So waren die Kälbchen bisher jeweils nicht angebunden gewesen und standen dicht ans Gitter gedrängt, wo ich sie wenigstens streicheln und ihnen so – zwar spärlich aber immerhin etwas – beistehen konnte. Sie ansatzweise beruhigen, und auch um ihnen zu zeigen, dass nicht alle Menschen sie ausbeuten und ihnen Böses wollen.
Ich ging dann jedenfalls zuerst einmal nach Hause, um zu weinen – Tränen der Hilflosigkeit sowie auch einer unbändigen Wut. Einer Wut darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in der solche Gewalt als normal gilt und toleriert wird. In der die Gewalt gegenüber Tieren so normal ist, dass viele gar nicht wissen, wovon ich spreche, wenn es mir weh tut, diese mitanzusehen.
Also suchte ich in meiner Hilflosigkeit jemanden, dem ich dafür die Schuld zuschieben kann: Menschen, vor allem aber auch Männern, die im Schnitt doch irgendwie weniger mit Empathie gesegnet zu sein scheinen. Ich flüchtete mich in die Verachtung ihnen gegenüber, zumindest bestimmten Männern, die ich dann auf alle projizierte. Weil es ablenkt, vom Schmerz, von der Hilflosigkeit, dem allen ausgeliefert zu sein und nur in sehr kleinen Schritten etwas ändern und bewegen zu können. In einem Schneckentempo, das schwer zu ertragen ist, während Unschuldige leiden.
Nur bringen Vorwürfe uns alle nicht weiter. Und alle Männer in einen Topf zu schmeissen sowieso nicht. Es ist in etwa genauso lieblos und schon gar nicht zielführend. Doch so schnell verlier ich mich darin, wenn’s weh tut und ich einen Grund dafür suche, finden möchte. Um dem nicht ganz so ausgeliefert zu sein.