Egal, wo ich bin, überall hat es sie. An manchen Orten mehr, an anderen Orten weniger. Und immer wieder diese Unsicherheit im Kontakt mit ihnen. Dass ich sie nicht ignorieren möchte, gleichzeitig aber auch nicht allen etwas geben kann, und sowieso auch immer die Frage, was denn nun inwiefern sinnvoll wäre. Doch dazu müsste ich wohl jeden Einzelnen von ihnen kennen, ihre Geschichte, ihre Ängste und Träume, ihre Umstände.
Ich habe es schon getan, wenn ich denn Zeit hatte beziehungsweise sie mir nehmen wollte und vor allem auch ihre Sprache sprach, dass ich mich zu ihnen setzte, das Gespräch mit ihnen suchte. Zum Beispiel in Melbourne mit einem, der mir von seinen Bemühungen erzählte, wieder auf die Beine zu kommen, sowohl er als auch seine Partnerin. Von seinen Plänen und Träumen. Der froh darum zu sein schien, dass ihm mal jemand zuhörte. Ich sass da also mit ihm, am kalten Boden im winterlichen Melbourne, und die Perspektive gefiel mir nicht. Da so unten zu sitzen, während die da oben an uns vorbei eilten, so taten als wären wir Luft.
Immer wieder frage ich mich, warum sie da wohl sitzen. Es allenfalls so gewählt habe, wobei sich da auch immer die Frage nach der Alternative stellt. Als diplomierte Sozialarbeiterin möchte ich glauben, dass sie es nicht müssten, wenn sie denn nicht wollten, dass unser Sozialsystem für alle von ihnen einen Platz hat, aber dem ist nicht so. Oder vielleicht auf Biegen und Brechen schon, wobei wohl vor allem sie verbogen und gebrochen werden.
Es gilt ja auch zwischen Obdachlosen und Bettlern zu unterscheiden, so muss nicht jeder Bettler obdachlos sein und nicht jeder Obdachlose betteln. Und zwischen ein jedem von ihnen dann auch wieder. Alles Individuen, Geschichten, Schicksale, die gesehen, gehört werden wollen, wie wir alle.
Grundsätzlich möchte ich mit einer Spende keine Süchte unterstützen und es auch nicht fördern, dass die Mafia Leute verkrüppelt, damit sie so mehr Geld erbetteln. Wenn aber diese Person, die da sitzt, tatsächlich von Natur aus unter diesem Gebrechen leidet, aus welchen Gründen auch immer nichts hat, hungert, und ich nun einfach an ihr vorbei laufe? Es fällt mir nicht leicht, gar nicht. Aber sowieso könnte ich nicht allen von ihnen etwas geben.
Ich habe mal gelesen von einem, der damit genauso Mühe hatte, für sich dann aber beschloss, jeden Tag einen bestimmten Geldbetrag in der Tasche zu haben, den er jemandem gab. So als Zwischenweg, dass er sich erlaubte, dies täglich zu verschenken, sich auch gut überlegte an wen, und sich damit dann versuchte zufrieden zu geben.
Und warum geht es da auch eigentlich, um sie oder vielmehr um mich und mein schlechtes Gewissen, das ich mit einer hastig hinein geworfenen Geldspende besänftigen will, dass ich doch nichts dafür kann, dass sie dort sitzen, aber ich doch ein Gutmensch bin, weil ich ihnen ja Geld gebe? Wirklich? Dass ich eigentlich am liebsten wegschauen, vorbeieilen möchte, um nicht mit unser aller Verletzlichkeit konfrontiert zu werden, der Tatsache, dass wir alle dort sitzen könnten.
Damit meine Spende nicht für Alkohol oder Drogen draufgeht, frage ich sie nach Möglichkeit, ob ich ihnen etwas zu essen kaufen kann, was sie denn gerne hätten und hole es ihnen. Aber wenn das alle tun, dann haben sie zwar vielleicht einen vollen Bauch, aber auch nicht mehr. Ich weiss es nicht… Ich möchte sie gleich behandeln wie alle anderen, ebenbürtig, aber woran würde sich das zeigen? Denn an den anderen laufe ich ja grösstenteils auch einfach vorbei.
Diese Tage sass da wieder ein Mann im mittleren Alter. Ich grüsste ihn, aber lief weiter und gab nichts, da ich gerade auch kein Kleingeld hatte. Ein paar Schritte weiter fand ich das irgendwie mal wieder doof von mir, ihn zu grüssen, was ich bei anderen ja auch nicht tue (zumindest nicht in einer Grossstadt wie Berlin), dann aber nichts zu geben, weiterzueilen. Es fühlte sich einfach irgendwie falsch an, und das tut es ehrlich gesagt immer, egal, was ich tue. Heute lief ich dann wieder an ihm vorbei. Er war nicht alleine, noch mit zwei anderen sass er da, aber er strahlte mich an, schon von weitem, lächelte. Und ich lächelte zurück und grüsste wieder. Das alleine schien doch schon genug zu sein, ihm etwas zu bedeuten. Und das gab mir so unglaublich viel…
Ich kann nichts daran ändern, dass sie da sitzen. Ich kann sie nicht bei mir aufnehmen und ihnen nicht allen Geld geben oder ungeschehen machen, was sie in diese Situation gebracht hat, aber ich kann sie wahrnehmen, sie beachten, ihre Anwesenheit würdigen. Ohne dass es mich Zeit oder Geld kostet. Und ich möchte mich darum bemühen, dies auch möglichst oft zu tun. Und wenn ich nicht weiss, wie mit ihnen umgehen, warum dann nicht auch einfach mal das Gespräch suchen und fragen, wie sie es denn gerne hätten…